Ich freue mich sehr, dass das Thema Zivilcourage hier diskutiert wird. Mitte nächsten Monats werde ich einen Vortrag zu dem Thema halten. Interessanter Weise würden fasst alle Zivilcourage erkennen wenn sie sie sehen, aber wenn es darum geht Zivilcourage zu definieren wird es oft schwieriger, weil ganz verschiedene Aspekte zusammenkommen um aus einer Handlung ein Beispiel von Zivilcourage statt beispielsweise einfach "nur" eine mutige, oder solidarische Handlung zu machen. Bevor ich jetzt aber mit Definitionsversuchen langweile erst mal zur Frage eigener Erfahrungen mit Zivilcourage
Bislang bin ich noch nie in eine Situation gekommen in der ich (bewusst) mein Leben oder meine Gesundheit für die Sicherheit anderer riskiert habe. Ob ich in einer Situation wo sofortiges Einschreiten (und nicht bloß der Notruf der Polizei den ich sonst auf jeden Fall rufen würde) erforderlich wäre um blutvergießen (von anderen) zu vermeiden den spontanen Mut dazu hätte kann ich nicht sagen.
Vor Jahren habe ich mal gesehen wie ein junger Mann eine Junge Frau abends an einem Bahnsteig gegen ihren Widerstand blöd anzumachen (einschließlich nach ihr zu greifen) schien. Ich bin daraufhin dorthin gegangen und habe gefragt ob alles in Ordnung wäre. Sie war Anscheinend seine Freundin und es war wohl nicht so ernst wie es aussah und auch als ich zur Sicherheit noch ein zweites Mal nachfragte wurde mir eher irritiert gesagt das alles in Ordnung sei. Es war wohl einer dieser (hier zuvor auch schon erwähnten Fälle) wo man sich selber in eine peinliche Situation bringen kann, wenn man eine Situation falsch auslegt. Aber im Zweifelsfall sollte man eine solche Peinlichkeit auf jeden Fall riskieren.
Ohne unmittelbares persönliches Risiko war die häufige Teilnahme an Gegendemonstrationen gegen Naziaufmärsche und das deutliche Signalisieren was man von ihrer Gesinnung hält wenn sie vorbeizogen.
In einem anderen Fall habe ich mich für viele von denjenigen geschämt mit denen ich zusammen demonstriert habe. Es ging damals um die Abschaffung der Studiengebühren in NRW. Bei den Protesten gegen die Gebühren gab es leider auch Knallköpfe die meinten die Polizisten die die Demonstration absicherten (und sogar einen unangemeldeten Zug von der Uni in die Innenstadt entlang einer Hauptverkehrsstraße) beschimpfen und beleidigen zu müssen (blödsinnige Sprüche wie: "Ohne Bildung werd ich Polizist." usw.) und in extremfällen auch Feuerwerkskörper warfen. Für diese Leute in unserer Demo habe ich mich echt geschämt und bin zu mehreren Polizisten hingegangen um mich laut und deutlich für diese Spinner zu entschuldigen, zu versichern dass sie keine Mehrheit seien und dafür zu danken, dass sie diese Demonstration mit möglich machten.
Das letzte Mal dass ich etwas tun konnte was vielleicht irgendwie mit Zivilcourage zu tun haben könnte (aber eigentlich eher schlichtweg unter erster Hilfe läuft) war vor ein paar Monaten. Wie in so vielen Städten gibt es auch hier hinter dem Bahnhof eine Gruppe von Menschen die in eher ungewaschenem Zustand und mit sehr hohem Alkoholpegel von den übrigen Menschen behandelt werden als würden sie nicht existieren (Augen starr geradeaus und zügig vorbeigehen usw.). Einer von diesen Menschen lief alkoholisiert wie er war mit großer Wucht gegen die Verglaste Front einer Bahnhofsbuchhandlung und brach zusammen. Da bin ich sofort hin, habe den Notarzt gerufen, versucht den Mann anzusprechen (er war nicht bewusstlos aber vollkommen benebelt) und ihm meine Jacke unter den Kopf geschoben (der sonst auf dem harten Steinboden gelegen hätte). Auffallend war das viele andere (die wesentlich näher dabei gewesen waren) erst begannen zu fragen ob sie irgendetwas tun könnten als eigentlich ziemlich deutlich war das wir nur noch auf den Arzt warteten. Zum Glück war der Mann nicht wirklich verletzt (und den Leuten vom Notdienst die kamen war er wohl auch kein Unbekannter). Mehrere Freunde des Mannes aus der gleichen Gruppe kamen dann noch zum mir und haben sich bedankt. Ich muss gestehen, dass es mir etwas peinlich war, denn ganz freisprechen kann ich mich nicht von dem zuvor beschrieben verhalten gegenüber diesen Menschen (Augen geradeaus und zügig vorbeimarschieren). Vorurteile haben wir alle und Vorurteile in einem "vernünftigen" Maß können uns helfen Situationen einzuschätzen und uns vor Schaden zu bewahren. Aber so sehr ich auch nachdenke kann ich mich an keinen Fall erinnern an dem ich beispielsweise jemals von solchen Menschen blöd angepöbelt wurde oder irgendetwas in der Art was meine Vorurteile rechtfertigen könnte. Ich glaube, dass es vielen von ihnen einfach unheimlich gut tut mal als Mitmenschen wahrgenommen und auch so behandelt zu werden. Dass dies nicht die Norm ist wirft ein schlechtes Licht auf unsere Gesellschaft.
Zurück zum Hauptthema Zivilcourage. Es gibt verschiedene Arten von Zivilcourage und es ist fast ein bisschen Schade, dass im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit fast immer die Sorte steht die sofortiges Eingreifen unter hohem persönlichen Risiko erfordert und bei der (deshalb die größte Aufmerksamkeit) immer wieder mutige und engagierte Mitmenschen wie Dominik Brunner oder Tugce Albayrak ums leben kommen.
Versteht mich nicht falsch. Diese Menschen verdienen jedes bisschen von der Anerkennung die ihnen für ihren Mut und ihr Engagement entgegengebracht wird.
Durch den Hauptfokus auf diese so tragischen Fälle kann dazu beitragen das Menschen in kritischen Momenten eher wegschauen denn, mal ganz ehrlich, wie vielen gefällt der Gedanke zum Märtyrer zu werden und posthum das Bundesverdienstkreuz zu bekommen?
Man kann nicht viele allgemeinen Regeln für solche Situationen aufstellen (da je nach Person und Situation die gleichen Handlungen dazu führen können dass eine Person "runterkommt" oder aber völlig "durchdreht"). In einer solchen Situation lieber einmal zu oft als einmal zu selten die Polizei zu rufen ist aber sicher nicht verkehrt. Anschließend kann man vielleicht probieren (je nach Situation) deeskalierend zu wirken, oder aber durch das hinzuholen weiterer Unterstützung bei geringerem Risiko für den Einzelnen einzugreifen. Wenn man weitere Personen (sofern Anwesend) um Unterstützung bittet ist es wichtig nicht eine gaffende Menge als ganzes anzusprechen ("Hilfe!") sondern ganz konkret einzelne Personen anzusprechen, sie dabei anzusehen und gegebenenfalls auch dazu zu sagen was zu tun ist ("Sie mit dem Handy, rufen bitte sofort die Polizei. Sie mit der blauen Jacke und sie mit dem Supermankostüm (zugegeben eher die Ausnahme), bitte helfen sie mir diesen Menschen daran zu hindern diesem anderen Menschen zu verletzen").
Ich weiß zwar nicht ob es stimmt, aber vorstellen könnte ich es mir, dass etawas an dem oft gehörten Ratschlag dran ist, man solle "FEUER!" statt "HILFE!" rufen um Leute herbeizulocken.
Es gibt aber wie gesagt auch die Formen von Zivilcourage, bei denen nicht unbedingt das eigene Leben riskiert werden muss. Dass kann der langfristige aktive Einsatz / das Engagement für Ziele oder Wertvorstellungen sein. Auch an vielen Arbeitsplätzen kann man sich für Kollegen, Kunden oder auch sich selber einsetzen wenn es dort Angriffe, Mobbing, Ungerechtigkeiten oder Befehle / Anweisungen gibt die dem eigenen Gewissen widersprechen.
Solche Einsätze resultieren zwar bei uns selten in der Ermordung eines zivilcouragierten Menschen durch seine oder ihre Vorgesetzten, Kolleginnen / Kollegen oder Kunden / Kundinnen, aber es haben Leute sehr wohl ihre Jobs darüber verloren und sooo lange ist es auch noch nicht her, dass Menschen die aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigerten dafür mit sozialer Ächtung belohnt wurden. Das aber die Wehrpflicht vor einigen Jahren abgeschafft wurde kann auch als ein Beispiel für den Erfolg von langfristiger Zivilcourage Vieler zur Bewirkung gesellschaftlicher Veränderungen gesehen werden (wobei natürlich auch die geänderten Verhältnisse seit 1989 eine sehr maßgebliche Rolle gespielt haben).
Das Whistleblowing um auf Missstände hinzuweisen kann eine weitere Form von Zivilcourage sein (wobei hier sicherlich auch die Motivation (Gewissenskonflikt und Wunsch etwas zu verbessern oder Wunsch "dem Chef eins auszuwischen") eine Rolle bei der Wertung spielt.
Was macht Zivilcourage aus?
Mut / Tapferkeit / Bereitschaft zu einem persönlichen Risiko sind in vielen Fällen Teil von Zivilcourage. Ein alleiniges Kriterium ist es sicherlich nicht. Den persönlichen Mut wird man vielen Soldaten nicht absprechen die sich in Schlachten gestürzt haben, aber Zivilcourage wird dann doch eher den Soldaten attestiert die die Sorte von Mut aufbrachten die es erforderte sich unmenschlichen Befehlen zu widersetzen und die Folgen in Kauf zu nehmen.
Selbstlosigkeit und Solidarität sind oft Merkmale von Zivilcourage wenn sie ausschließlich zum direkten Nutzen anderer geschieht. Jemandem der großzügig spendet oder sich in einer von der Gesellschaft gewürdigten Art und Weise (also ohne persönliches Risiko) für andere einsetzt würde man dafür allein meistens aber auch nicht als Beispiel für Zivilcourage nennen.
Oft besteht eine Art von Machtungleichgewicht zwischen der Person die Zivilcourage ausübt und der Person / Gruppe gegen die die Zivilcourage sich richtet. Das kann ein physischer Unterschied sein (der Schlägertyp mit dem Messer), ein sozialer Unterschied (der Chef / Vorgesetzte / Befehlshaber der einen entlassen, zurückstufen oder sogar arretieren kann), oder ein zahlenmäßiger Unterschied (beispielsweise wenn sich jemand in einer rasisstisch dominierten Gesellschaft für die Rechte einer Minderheit einsetzt).
Der manchmal am schwierigsten zu fassende Punkt ist der, dass das Motiv für die Handlungen meist von einer nicht immer ganz einfach festzulegenden Art von Integrität / Güte / Anstand geprägt sein sollte. Einem Neonazi der sich gegen die Mehrheitsmeinung für sein Recht einsetzt rasisstische Hetzpropaganda in die Welt zu posauenen würde dafür kaum jemand Zivilcourage attestieren.