Firebird schrieb:Wo hat Johnson eigentlich die steile These her, die EU plane eine "Lebensmittelblockade" zwischen Nordirland und dem Rest von GB? Ich habe davon noch nichts gehört.
Johnson ist ein chronischer Lügner, der für einige der Lügengeschichten persönlich verantwortlich ist, die bis heute zirkulieren. Es gibt eine Grundlage für Johnsons Vorwurf, aber der Vorwurf ist letztlich nur zu erklären wenn Johnson entweder keinerlei Moral hat und einfach versucht hier durch drastische Aussage einen Vorwand zu finden sein Gesetz durchzudrücken, obwohl es illegal ist, oder aber Johnson und Co. haben tatsächlich erst jetzt festgestellt, dass ihr Last Minute Abkommen vom letzten Jahr besser mal hätte von Experten durchgesehen werden sollen. Blödheit oder Manipulationsversuch? Mein Geld ist auf letzterem, wobei ich erstes nicht 100% ausschließen kann.
Nun zu den Details: Das Withdrawal Agreement bestimmt, dass Nordirland Teil des Vereinigten Königreiches bleibt. Aber, alles was dort hin geliefert wird wird behandelt als sei es für die EU bestimmt, wodurch entsprechende Zölle anfallen und die Europäischen Binnenmarktregeln auf das Produkt angewendet werden müssen. Nur wenn nachgewiesen werden kann, dass nach Nordirland gelieferte Produkte tatsächlich nicht Gefahr laufen über die Grenze nach Europa gebracht zu werdenkann eine eventuelle Zolldifferenz ausgegelichen und die britischen Regeln als Grundlage herangenommen werden. Verantwortlich für diese Prüfung ist der britische Zoll, wobei die EU ein Büro unterhalten soll, welches die Einhaltung Europäischer Zollregeln durch die Briten überwacht und als Ansprechpartner für die dortigen Beamten dienen soll.
Natürlich gilt so eine Regelung auch für Lebensmittel. Gerade auch wenn die Grenze offen ist muss man davon ausgehen, dass auch schonmal ein Bürger der irischen Republik in Nordirland im Laden Lebensmittel einkaufen und über die Grenze bringen wird. Das von Boris Johnson selbst eingebrachte Bürokratiemonster welches nordirische Importe managen soll kann also garnicht davon ausgehen, dass irgendwelche Lebensmittel automatisch nur im britischen Hoheitsgebiet bleiben und im Grundsatz kann keine Dokumentation der Welt ausschließen, dass sich mal ein Ire in Belfast ein Fertiggericht kauft, wenn er sowieso schon seine Oma besucht und keine Lust hat am Abend selbst zu kochen.
Ergo braucht es bei Lebensmitteln, von deren Einfuhr Nordirland abhängt, eine Möglichkeit die Europäischen Regeln in Nordirland weiter anzuwenden. Das Withdrawal Agreement liefert das im Prinzip in einer vorläufigen Variante. Jetzt will die Regierung Johnson aber per Gesetz das Withdrawal Agreement aushölen.
So wie ich es gefunden habe, ist die Argumentation der britischen Regierung jetzt, dass man davon ausgegangen sei, dass Lebensmittel, die von Großbritannien nach Nordirland gehen auch in Zukunft eine Zulassung für den Europäischen Markt haben. Egal wie sich die Gespräche ansonsten entwickeln. Gesetzt Johnson hat das Gespräch mit Barnier nicht nur erfunden, dann können wir wohl davon ausgehen, dass Barnier den Premierminister auf diesen Irrtum hingewiesen hat. Kein Abkommen welches das Withdrawal Agreement beinhaltet = keine Zulassung von Lebensmitteln für den Europäischen Markt, ergo, das ganze System kann nicht benutzt werden. In sofern sei darauf hingewiesen, dass bereits im August die Unternehmen in Nordirland darauf hingewiesen hatten, dass die Versorgung im nächsten Jahr leiden wird, mit höheren Preisen und weniger Auswahl. Entweder das Withdrawal Agreement hält, dann wird der zusätzliche Aufwand zwei Zollregeln anzuwenden die Preise hochtreiben und wenn Großbritannien mit seinen Richtlinien von Europa abweicht, werden entsprechende Güter nicht mehr von der Hauptinsel importiert werden können. Oder das Withdrawal Agreement hält nicht. Dann muss die EU um Schmuggel zu verhindern ihre Grenzen kontrollieren, was die Versorgung mit Lebensmitteln durch Irland und aus dem Rest Europas ins Stocken bringt. Für Nordirland war jeder Fall negativ. Aber man sollte nochmal betonen, dass es Boris Johnson war, der den Vorschlag unbedingt durchbringen wollte und der auch gesetzlich durchdrückte, dass das Parlament über dieses System nicht weiter beraten dürfe.
Man kann hier aber nicht davon reden, dass die EU irgendeine "Blockade" durchführen könnte. Die Durchführung ist in britischer Hand, mit Kontrollen für die Lokale Regierung in Belfast. Die müssten sich wuasi selber blockieren. Die EU sieht nur, ob ihre Regeln angewendet werden und handelt entsprechend. Es scheint, Johnson versteht tatsächlich nicht, dass die Kontrollen von Standards einen tieferen Sinn haben. Anders kann ich mir diese wiederkehrende Verwunderung auf britischer Seite, dass die Europäer tatsächlich nicht wollen, dass ihre Standards unterlaufen werden langsam nicht mehr erklären. Die beste Lösung wäre natürlich irgendeine Einigung gewesen, mit der Großbritannien einfach weiterhin die europäischen Lebensmittelstandards anerkannt hätte. Das hätte den Bürokratieaufwand beim Zoll auf ein Minimum begrenzt.
Um die Positionen in den damaligen Verhandlungen nochmal Revue passieren zu lassen. Die Europäische Union hat damals vorgeschlagen. Nordirland einfach im Geltungsbereich der EU zu belassen wenn Großbritannien austritt. Das war eine radikale Forderung, die aber am einfachsten umsetzbar gewesen wäre, weil so das Good Friday Agreement erhalten geblieben wäre. Großbritannien hat dieser Maximalforderung natürlich nicht zugestimmt, wobei Theresa May den "Backstop" ins Spiel brachte. Ganz Großbritannien bliebe der EU Gesetzgebung verpflichtet bis zu dem Tag, an dem eine gangbare Alternative gefunden worden wäre. Das hätte Großbritannien effektiv wohl einfach ohne Mitspracherecht in der EU belassen, jedenfalls regeltechnisch, aber hey, für die EU definitiv eine Möglichkeit. Und wenn die Briten tatsächlich eine Alternative entwickeln ist das ja auch gut. Good Friday Agreement erhalten. Johnsons Vorschlag war dann die doppelte Zollmitgliedschaft Nordirlands, mit Zollgrenze in der irischen See. Kompliziert, aber es sieht so aus als hätte er tatsächlich nicht verstanden warum die EU sich auf diese Lösung damals eingelassen hat. Was schon eine bemerkenswerte Idiotie darstellt. Die Lösung hat Großbritanniens Verhandlungsposition für spätere Regelungen effektiv geschwächt. Mit jeder Abweichung von Europäischen Regeln wurde der Druck auf Nordirland nur umso größer und der dortige wirtschaftliche Schaden problematischer. Großbritannien hatte also, bei aller "wiedergewonnen Souveränität" immer eine Motivation möglichst nahe an den EU Regeln zu bleiben, weil es sonst seine eigenen Bürger in Nordirland getroffen hätte. Für die EU eine herrliche Verhandlungsposition, welche die nordirischen Parteien quasi als Fürsprecher des Status Quo zwangsrekrutierte, nicht nur bei Gesprächen zwischen GB und EU, sondern auch bei allen anderen Handelsverhandlungen die da kommen sollten, in denen die EU garnicht am Tisch gesessen hätte. Und als Kirsche auf der Sahne auch noch ein Vorschlag den die Briten selber gemacht hatten. Aber naja, jetzt hat Johnson offiziell zum ersten Mal wohl erkannt, dass die Lösung die er eingebracht hatte garnicht so gut für ihn war. Ich würde ja gerne sagen, dass das EU Team da gut verhandelt hat, aber seien wir ehrlich, Johnson hat hier auch versucht den Schlag mit der Nase zu blocken und wundert sich jetzt über das schmerzende Nasenbein.
Den Wind können wir nicht bestimmen, aber die Segel richtig setzen.
- Lucius Annaeus Seneca -