*Finger-Knacken* Get ready for a wall of text
Bronyhead, du hast anscheinend - verständlicherweise - nicht den ganzen Thread gelesen. Sei unbesorgt, den Polytheismus vertrete ich hier schon länger vehement... immerhin bin ich Polytheist
Der Polytheismus ist heute weltweit verbreitet. Am ehesten in Eurasien, wo es von Lappland bis zur Südsee noch unzählige ungebrochene Viel-Gott-Religionen gibt.
Der Polytheismus, der bei uns in Deutschland
(außer in den slawischen und kelto-romanischen Gegenden) "
Firne Sitte" hieß und heute vor allem unter dem Begriff "
Heidentum" bekannt ist
war nie wirklich tot.
Kurze Historie:
Die Christianisierung Deutschlands ging ja bekanntlich von Süd nach Nord von statten. Schon in der späten Antike begann es, da in den Grenzregionen zum christlich-römischen Reich - an Rhein und Donau - sich die verschiedenen Kulturen gerne vermischten. So übernahmen wir z.B. zwar den römischen Kalender, übersetzten die Wochentage aber in's Germanische und ersetzten die römischen Götter darin auch durch die unseren.
Mit der Zeit begann sich das Frankenreich, ausgehend vom Rheinland und Flandern, in alle Richtungen auszudehnen, und mit ihm das Christentum, das auch ab und zu den besiegten Völkern mit dem Schwerte aufgezwungen wurde. Zu Beginn des Mittelalters
(um 600) waren dann ganz Süd-, West- und Mitteldeutschland christianisiert, offiziell. Der Norden kam dagegen später dran, die Christianisierung begann hier um 800, heidnische Erhebungen gegen die Kirche gab es hier bis in das 13. Jahrhundert jedoch immer wieder.
Mit der Zeit folgten dann auch nach und nach die skandinavischen Stämme, bis im Jahre 1000 letztlich Island christianisiert werden sollte. Da es gute Beziehungen zum Festland versprach, beschlossen die schlauen Isländer, sich nach außen hin zwar geschlossen christlich zu geben, im privaten aber freie Wahl zu haben wen sie anbeten sollten.
Schon bald darauf, so ab dem 13. Jahrhundert, begannen skandinavische Gelehrte sich wieder für die firnen Sitten zu interessieren. In jener Zeit wurden auch all die berühmten nordischen Sagen, wie die der Edda-Schriften, nieder geschrieben. Allmählich kam die Wieder-Entdeckung des Heidentums in Fahrt, angeheizt wurde das ganze dann in der Renaissance, als man in Südeuropa wieder die antiken Mythen und Götter entdeckte. Bis auf ein paar kleine Ausnahmen hielt sich jedoch die Begeisterung für die alten vorchristlichen Götter in deutschen Landen arg in Grenzen, bis in das 19. Jahrhundert.
Denn da kam kein geringerer als der werte Herr Jakob Grimm, der ganze wissenschaftliche Werke über die heidnische Religion in Deutschland und was davon übrig geblieben war schrieb. Dies war quasi der Urknall für das neue Heidentum hier bei uns. Unglücklicherweise aber nahm das alles schnell eine unschöne Wendung: Die Nationalromantik war gerade in diesen Jahren ganz stark am erblühen, und bekanntlich sponn' sie sich ihre "deutsche Kultur und Geschichte" wie sie es wollte zusammen. Da kam ihnen die aufflackernde Begeisterung für das Heidentum und die Germanen gerade recht, um einen historischen Mythos, eine große germanische und wild-romantische Vergangenheit zu (v)erklären... und auch wenn ich ein Riesen-Fan von Wagners Opern bin, aber da wurde das Heidentum schlichtweg verfälscht und missbraucht. Seitdem tragen die Germanen auch ihre "
Flügelhelme" oder "
Hörnerhelme"...
Wie es weiter geht weiß man ja. Nach den Nationalromantikern missbrauchten Nationalisten die heidnischen Sitten (
übrigens war das damals kein rein deutsches Phänomen), bzw. das was man mittlerweile dafür hielt, für politische Ziele, und dann kamen die Rassisten, die irgendwelche arisch-reinrassigen Herrscher-Ideologien in ganz banale Mythen und Sagen hinein interpretierten. Hitler selbst war gar nicht mal so der Heiden-Fan, aber Himmler hat einen ganzen kranken Kult darum aufgebaut.
Nach dem Krieg wollte eigentlich kaum einer bis gar keiner mehr etwas damit zu tun haben, was auch nur ansatzweise etwas mit Germanen zu tun hatte. Leider hält das in Deutschland bis heute hie und da stark an.
Dann kam die 68er-Bewegung und die Hippie-Ära, mit ihren alternativen Lebensmodellen und der neuen Spiritualität, et cetera. Im guten alten Island, das bis heute so wenig christianisiert ist, dass man in Reykjavik nicht mal auf den Wohnstätten von Elfen bauen darf, nahm das eine interessante Wendung: Immer mehr Leute wandten sich dem als vertaubst geltenden und eh halbherzigen Christentum sowie der trockenen modernen Nüchternheit ab und wollten sich wieder auf ihre naturnahen Wurzeln beziehen. Verklärung oder gar Rassismus sollten auch gänzlich fort bleiben, man wollte seinen Glauben auf einer tolerant-augeklärten Basis und historisch korrekt ausleben. Die neue Bewegung begann von da ab mit jenen Idealen einen neuen Siegeszug: Erst nach Skandinavien, später begann man auch in den USA vermehrt zu den nordischen Göttern zu finden. Eine neue Begeisterung erwuchs für die heidnischen Sitten, die nicht nur in Britannien und den ehemaligen Ostblock-Staaten eigene heidnische Wellen erweckte, sondern sich auch - aber leider erneut verklärt - in Metal-Musik und New-Age-Esoterik fand.
Stand heute: In Island sind die Firnleute die zweitgrößte religiöse Gruppe
(nach den Christen) und sie werden stetig einflussvoller, momentan wird sogar ein großer Tempel in Reykjavik gebaut. Im Rest Skandinaviens sind die Firnleute ebenfalls sehr verbreitet und hie und da gelten sie schon als etwas ganz normales. In den USA haben diverse Institutionen wie die Armee die firnen Sitten bereits als echte Religion anerkannt. In West- und Ost-Europa finden auch immer mehr Menschen dahin. Nur in Deutschland sieht es noch ein wenig rar aus, und zwar 1. aus dem Scheuen von allem, was mit Germanen zusammen hängt und 2. weil die bereits bestehenden Firnleute in Deutschland selbst untereinander recht verstritten sind. Dazu später mehr.
Wie ich geschrieben habe;
tot waren die firnen Sitten in Deutschland nie. Sicherlich ist es richtig, dass der aktive Kult irgendwann mehr oder minder sein Ende fand. Doch vieles hat die Christianisierung überdauert, primär als Volksbrauchtum. Denn das ist es viel mehr, das Heidentum. Man kann es weniger mit heutigen großen Religionen wie Christentum oder Islam vergleichen, sondern viel mehr mit Brauchtum, das heute vor allem auf dem Land noch gepflegt wird.
Das kommt von ganz banalen, alltäglichen Sachen wir unseren Wochentags-Namen, der Bedeutung der Eiche für uns oder diversem "
Aberglauben" bis hin zu ganzen Fest-Zeiten und Festen wie Osterfeuer oder Tanz in den Mai.
Am meisten aber haben die firnen Sitten bis heute dort überlebt, wo sie vor der Christianisierung auch ihren festesten Platz hatten: In Sagen, Märchen und Mythen. Einige Märchen, wie Dornröschen, strotzen nur so vor heidnischen Inhalten, ja das Märchen von der Frau Holle kann man sogar als reine und direkte Wiedergabe heidnischer Religion sehen. Und natürlich viele regionale Sagen, die von der wilden Jagd, düsteren Geisterreitern, Zwergen, Elfen, Riesen, Nixen, Hexen, Drachen und so weiter handeln... die meisten haben ihren Ursprung in der firnen Sitte.
Die firne Sitte ist im Grunde eine Bauern-Religion. In diesem Lichte sollte man sie im Übrigen auch stets sehen.
Die meisten Götter und Wesen bringen Fruchtbarkeit und Glück. Die Feste drehen sich um den Lauf der Jahreszeiten und das bäuerliche Jahr, von der Saat bis zur Ernte.
Die Religion kommt eigentlich fast gänzlich ohne hoch-komplexe Theologie aus. Wenn sich ein Kind fragte, wie Thunar (
ein Gott) den Donner mache, dann hieß es nicht "
Er macht es einfach, frag nicht weiter, seine Wege sind unergründlich, blablub,...", sondern ganz banal und simpel "
Ja, das ist das Krachen das kommt wenn er mit seinem Hammer einen Riesen erschlägt, weil der nämlich unsere Ernte verhageln wollte."
Es ist eine sehr einfache und menschennahe Religion. Die Götter sind weder allmächtig, noch unfehlbar, noch allwissend... es gibt sogar Sagen, wo ein Mensch auch mal einen Gott überlistet. Ja, die Götter sind sehr menschlich und handeln auch aus den selben Gründen wie die Menschen, oder auch anders herum, immerhin sehen die Firnleute den Menschen und seine Moral als direkten Nachfahren der Götter. Jedenfalls sind einem die Götter somit auch nicht immer gewogen, bzw. "
das reine Gute", und es gibt auch Sagen wo sich so ein Gott mal unter ein Heer mischte, um ein anderes auf zu reiben. Das, wo doch beide Heere treue Firnleute waren.
Da jeder Stamm teils andere Götter verehrte und jede Sippe ihre Riten leicht unterschiedlich ausübte, wird im Heidentum auch kein Anspruch auf die eine, reine Wahrheit oder gar auf die Gültigkeit der Religion für alle Menschen gestellt.
Wer noch Fragen zur firnen Sitte a.k.a. dem Heidentum hat: Immer her damit!
So, und nun dazu, weshalb diese Religion oftmals belächelt wird. Natürlich der Klassiker seitens der konventionellen Religionen: "
Ähh, das ist doch keine richtige Religion, und veraltet sowieso..." Da kann man nichts zu sagen bei. Sicherlich ist es ungewohnt davon zu erfahren, dass es heute wieder Firnleute gibt, doch ohne Unwissenheit ist es so normal wie ein Trachten-Verein.
Und natürlich schwingt aber auch immer der Nazi-Vorwurf mit...
Eine Gruppe hackt aber am ehesten auf den Firnleuten rum, und das sind:
Sie selbst. Ja, es ist wahr, wir hätten hier in Deutschland wahrlich das Potenzial so gesellschaftlich anerkannt zu werden wie in Schweden oder den USA. Aber der deutsche Heide scheut vor allem eines; und das ist:
Organisation.
Denn damit wird stets Indoktrination und Unfreiheit verbunden, und es ist ja auch wahr, dass so ein Verein zumindest ein paar Richtlinien haben muss. Aber es ist den Heiden hier in Deutschland so wichtig, ihr eigenes Ding zu machen, dass sie nicht mal für 5 Minuten dieses Ding ein wenig nur umändern. Es gibt durchaus ein paar heidnische Vereine, die sind aber teils gänzlich unterschiedlicher Coleur und erste Versuche, einen gemeinsamen Nenner zu finden um öffentlich auch mal etwas bewirken zu können gab es erstmals vor wenigen Wochen erst.
Ein weiterer Punkt ist:
Synkretismus. Synkretismus ist es, wenn man mehrere verschiedene Religionen, oder Teile davon, in seinem persönlichen Glauben zusammen würfelt. An sich ist das natürlich ganz und gar nichts schlimmes, aber man muss sich ernsthaft die Frage stellen, ob etwas, was nur im Ansatz auf wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen über die heidnische Religion basiert, wirklich noch als solche oder Nachkomme einer solchen zu bezeichnen ist. "
Quellenfreunde" und "
Traditionalisten" sind aber unter Heiden leider relativ ungern gesehen...
Es gibt verhältnismäßig kleinere rekonstruktionistische Gruppen, die sich selbst auch korrekterweise "
Firnleute" nennen (
hier ist einer), die sich ernsthaft darum bemühen, ihren Glauben so zu leben wie es die Altvorderen taten, natürlich im Rahmen der Aufklärung und des Grundgesetzes. Sie bzw. wir studieren Quellen und arbeiten auch viel mit Brauchtum, Etymologie und so weiter zusammen. Da ist es ganz klar, dass wir unseren Glauben andauernd überprüfen, richtigstellen und hinterfragen müssen, um unserem Ziel immer ein kleines Schrittchen näher zu kommen. Hierbei steht also nicht der
Glaube an die Götter als solcher so gesehen im Vordergrund, sondern der
Glaube daran, dass der Glaube der heidnischen Ahnen jener ist, der uns selbst inne wohnt und entdeckt werden will. Einfach ist das nicht immer, gerade erst vor ca. 1 Jahr wurden die neuesten Forschungsergebnisse veröffentlicht, in denen man endlich den germanisch-heidnischen Kalender größtenteils rekonstruieren konnte.
Denn zuvor wurde meist ein typisch "
neuheidnischer Kalender" verwendet; ein Mix aus christlichem, keltischem und wiccanischem Kalender.
Doch wie gesagt ist das ein recht geringer Teil, der sich seriös mit der firnen Sitte beschäftigt. Der Großteil, der oft unter neuzeitlichen Begriffen wie "
Ásatrú", "
Neopaganismus" oder "
Naturglaube" zusammen kommt, beschäftigt sich weniger mit Wissenschaftlichen Thesen und Erkenntnissen oder etwa Brauchtum und Traditionen. Dieser äußerst bunte Haufen ist ein Misch-Masch aus Heavy-Metal-Fans, 19.-Jahrhundert-Romantikern, Möchtegern-Spirit-Schamanen, New-Age-Esoterikern, Marvel-Fans und Gegenbewegung-Öko-Hippies.
Ihre Vorstellungen vom alten Glauben sind natürlich absolut legitim da jeder glauben darf was er will. Und ihre Ausrichtungen des laten Glaubens sind auch manchmal ganz cool oder schön spirituell... doch eben, und das ist der Punkt, kaum das, als was es bezeichnet wird: Eine versuchte Rekonstruktion der vorchristlichen Sitten. Eben Neuheidentum, wenn man so will.
Tja, und weil all diese Strömungen sich ihre Fehler immer gerne gegenseitig an den Kopf hauen, und wir Firnleute da dann auch immer gerne den Oberlehrer spielen, ist es bislang so, dass diese alte Religion in Deutschland zwar mehr oder minder stark vertreten ist, aber sehr uneins und manchmal ein kindlich-streitiger Haufen... und wie gesagt, erste Versuche einer bundesweiten kooperation starteten erst in den letzten paar Wochen.
Mal sehen was kommt, ich bin zuversichtlich
Whitey schrieb:aber Thor hat sich als Frau verkleidet, um seinen Hammer von einem Riesen wiederzuholen
Vergiss nicht Loki, der ein Seil an einem Ende an die Hörner einer Ziege, am anderen Ende an seinen Hodensack festband und dann mit ihr ein makaber-schmerzhaftes Tauziehen begann, um eine Riesin zum Lachen zu bringen