Zitat:Die Probleme mit Lobbyismus und Entfremdung vom Wähler sind aber nunmal da und schaffen auch Akzeptanzprobleme
Und werden von direkter Demokratie nicht einen Deut behoben. Insbesondere Lobbyisten ist es herzlich egal, ob sie versuchen müssen einen parlamentarischen Ausschuss zu überzeugen, oder eine Masse an Menschen. Letztere ist, je nachdem, sogar leichter, weil ein bisschen gekonnte Twitterarbeit dafür sorgt, dass die eigene Position von selber verbreitet wird. Bei einem Politiker muss ich im Zweifel wesentlich mehr Zeit in die Überzeugungsarbeit gesteckt haben.
Für's Protokoll. Das geht natürlich auch umgekehrt, aber beide Felder, Öffentlichkeit und Entscheider sind von Lobbyisten ohnehin bearbeitet und ein Wechsel der Strategie gehört im Zweifel zum Geschäft. Aber wenn einer glaubt, man könne den Einfluss von Lobbygruppen reduzieren, indem plebiszitäre Elemente eingeführt werden, den muss ich enttäuschen, denen ist es egal ob Poker oder Skat gespielt wird.
Zitat:Die Sache ist nur, ich habe noch keine so wirklich differenzierte Auseinandersetzung mit Vor- und Nachteilen von mehr direkter Demokratie gesehen (du vermutlich schon, nehme ich an, so wie du davon erzählst)
Ich will nicht den EIndruck erwecken, als sei meine Meinung da sakrosankt. Da kannst du einiges im Detail diskutieren. Aber ja, selbstverständlich habe ich mich auch mit dem Thema der direkten Demokratien beschäftigt. Ohne die Rechte kann ich aber schlecht die Studien zu dem Thema verlinken auf die ich mich beziehe, aber ganz abgesehen davon, dass ich nicht die ganze Nacht nach Studien und Forschungsarbeiten suchen will, die ich über die Jahre gelesen habe, wäre das auch keine gelungene Art der Diskussion. Wenn ich hier 5 Artikel mit jeweils ca. 40 Seiten verlinke, wer hier will sich das denn alles durchlesen bevor geantwortet wird? Außerdem soll nicht der Eindruck aufkommen, ich würde hier mehr als meine Meinung äußern. Ja, in der Politikwissenschaft sind Plebiszite nicht gerade beliebt, aber es gibt durchaus Leute, die dafür einen Platz sehen, oder zumindest ernsthaft versuchen die am wenigsten schädlichen Optionen zu identifizieren. Aber, als Einstieg, völlig kostenlos und relativ leicht verdaulich:
EIn Zeit-Interview mit Wolfgang Merkel
Ich möchte davor warnen dem idealistischen Bild der "reinen" Demokratie aufzusitzen. Von allen Versprechen, die die direkte Demokratie gibt, kann sie eigentlich keines umsetzen. In den meisten Fällen stattest du nur reiche, engagierte Minderheiten mit einem Mittel zur Entscheidungsfindung aus, welches ein völlig unverdientes Maß an Legitimität vergibt. Weil es gerade so ein schön aktuelles Beispiel ist: Der Brexit ist objektiv eine dumme Idee, er hat keinerlei erwartbare Vorteile, selbst wenn man mal optimistisch an die Sache ran gegangen ist, der komplette Prozess ist ohnehin schon eine Farce und anstatt den Streit zu klären kann das United Kingdom froh sein, wenn es die Aktion als staatliche Einheit überlebt, was man garantiert nicht von allen Briten sagen kann, die in den Prozess reingehen. Aber gleichzeitig traut sich da keiner ran. Obwohl eine Minderheit die Entscheidung getroffen hat, wird diesem Beschluss nun die "Heiligkeit" des Volkswillens verliehen, was er nur unter einem sehr naiven Demokratieverständnis verdient hat. Eine Entscheidung, die letztlich nur von einer bestimmten Teilgruppe im Land überhaupt getragen wird, die britische Union ignoriert und damit einen Keil zwischen Gemeinden, Parteien und sogar Familien treibt. Alles Dank einem Plebiszit, welcher nur deshalb Gültigkeit hat, weil es formal nicht bindend war. Eine bindende Wahl wäre von der Wahlauffsicht kassiert und zur Wiederholung angesetzt worden. Es ist das Musterbeispiel für einen katastrophalen Entscheid der Direktdemokratie. Jetzt könnte man meinen, sowas wäre ein Extrembeispiel, sowas kommt ja nicht ständig vor. Aber dann muss ich leider sagen: "Doch, sowas kommt am laufenden Band vor!"
Schweiz 2014: Das Land hat in einer Entscheidung gegen Zuwanderung seiner Politik den Auftrag gegeben gezielt gegen Abkommen mit der Europäischen Union zu verstoßen. Wie ist das Problem gelöst worden? Bis heute garnicht. Im Grunde ignoriert die schweizer Politik gezielt das Ergebnis des Referendums, weil das Land wesentliche Verträge über Wirtschaft und Forschungszusammenarbeit mit Europa aufkündigen muss um der Entscheidung des Volkes nachzukommen. Die Suche nach Alternativen gestaltet sich schwierig, genau genommen, bis heute als unmöglich, weil die Konditionen der bestehenden Verträge noch aus einer Zeit stammten, als die EU da gegenüber der Schweiz sehr großzügig war. Das ist heute nicht mehr der Fall, also ignoriert der Schweizer Bundesrat erstmal munter weiter den Beschluss der Eidgenossen, während Beamte im Hintergrund die Quadratur des Kreises versuchen.
Griechenland 2015: Die neue griechische Regierung hat sich weitestgehend auf ein Hilfspaket mit den anderen EU-Finanzministern und der Troika verständigt, wobei das Paket auch einen Katalog von Bedingungen an Griechenland enthielt um die Hilfsgelder aus Europa zu bekommen. Die geforderten Reformen und Privatisierungspläne gefallen allerdings der Regierung nicht, also setzt sie ein Referendum an, in dem sie die Bevölkerung fragt, ob die Bedinungen erfüllt werden sollen.
Wohlgemerkt, es geht nicht darum, ob die Hilfsgelder angenommen werden. Es ging darum ob man die Bedingungen für Hilfsgelder erfüllen wollte. Wenig überraschend entschied sich das griechische Volk dagegen. Ebenso wenig überraschend war das den anderen Finanzministern aber egal, weil die, oh Wunder, nicht an einen griechischen Volksentscheid gebunden sind. Ergebnis: Die griechische Regierung machte trotz Referendum eine 180° Wende und stimmte den geforderten Maßnahmen zu. Was einen großen Teil der Griechen von ihrer eigenen Demokratie entfremdete und auch diverse weit links stehende Personen zu der Idee veranlasste, in Europa sei damit die Demokratie gestorben, wobei die simple Wahrheit war, dass in dem Referendum über etwas abgestimmt wurde, was das griechische Volk alleine nicht zu entscheiden hatte.
Oder gehen wir ein bisschen weiter:
Kalifornien 1978: Die Bevölkerung entscheidet mit überwätligenden 65% der Stimmen die Steuer auf Grundeigentum zu senken. Das Ergebnis:
1. Die gesenkten Steuern kamen nicht den Privatleuten, sondern den großen Konzernen und Immobilienmaklern zu Gute.
2. Der öffentliche Sektor brach in vielen Bereichen weitgehend zusammen, weil die Kommunen, denen die Steuer normalerweise zukam, den Verlust nicht kompensieren konnten und massiv an Leistungen sparen mussten. Insbesondere bei den öffentlichen Schulen, die in den 80er Jahren massiv an Qualität einbüßten, während die Kommunen ihre Schulden kaum im Griff halten konnten.
3. Ironischerweise führte die Neuberechnung der Vermögenswerte dazu, dass die Wohnungspreise im Bundestaat stiegen, was zu wachsenden Problemen mit Obdachlosigkeit führte und vor allem junge Familien und ärmere soziale Schichten finanziell stärker belastete.
Es gibt heoretisch noch weitere Beispiele, natürlich auch für Entscheidungen, die halbwegs vernünftig ausfielen, wobei ich es nicht gerade als einen Pluspunkt benennen würde, dass sich dann beispielsweise Schweizer gegen eine noch radikalere Zuwanderungsinitiative ausgesprochen haben. Wenn es natürlich schon als vernünftige Entscheidung gilt, dass sich eine Person nicht selbst die Hand mit einem rostigen Messer abschneidet, dann ja. Aber ich frage mich eher warum wir uns denn alle 2-3 Jahre wieder bangend hinstellen und hoffen müssen, dass die Person sich nichts antut. Warum muss die Wahrscheinlichkeit für eine wirklich, wirklich dumme Entscheidung denn so regelmäßig in den Bereich des möglichen kommen?
Zitat:Was noch?
Was dir sonst noch in unserer Demokratie zur Verfügung steht, hängt maßgeblich davon ab, was du eigentlich erledigt sehen möchtest. Wenn es dir darum geht Entscheidungen auf Bundesebene zu beeinflussen, gibt es auch die Möglichkeit direkt mit Ministerien und Abgeordneten Kontakt aufzunehmen. Wenn du mehrere Leute mit dem gleichen Anliegen hast, kannst du heutzutage auch für relativ Zeit und Geld schon recht ansehnlichen Lobbyismus betreiben. Elektronische Möglichkeiten sich zu koordinieren gibt es ja reichlich. Je nachdem brauchst du auch garnicht direkt auf die Politik einzugreifen, sondern kannst ehrenamtlich direkt an einer Lösung arbeiten, dann findest du dich je nachdem auch recht schnell in der Position wieder, dass die Politiker zu dir kommen um dich zu fragen, wie sie dir helfen können.
Natürlich, Erfolg kommt da nicht ohne jeden Aufwand, was ich aber ehrlich gesagt auch für absolut richtig halte. Ich kann kein Auto reparieren und würde mir das auch niemals anmaßen, aber Hinz und Kunz meinen im Zweifel alles intuitiv erfassen zu können, was mit internationalen Verträgen, staatlichen Verpflichtungen, oder ähnlichem zu tun hat. Und, Spoiler, die meisten können es nicht, sind nicht einmal im entferntesten interessiert.
Herrmannsegerman schrieb:Man könnte z.B. über den Umbau eines prominenten Platzes die Bewohner abstimmen lassen damit sie selber entscheiden können ob sie z.B. mehr oder weniger Grün, mehr oder weniger Parkplätze o.ä. wollen. Oder auch über Themen wie z.B. Sperrstunden oder welche Projekte im öffentlichen Nahverkehr eher umgesetzt werden sollen.
Auf kommunaler Ebene sehe ich grundsätzlich tatsächlich Platz, auch wenn meine erste Wahl im Leben ein kommunales Referendum war, bei dem die Frage leider keinen sinnvollen Kompromiss zuließ und letztlich an der Tatsache scheiterte, dass nur knapp 8% der Wahlberechtigten es für notwendig hielten eine Stimme abzugeben.
Aber das ist tatsächlich ein Punkt bei dem ich denke, dass dort auch tatsächlich flächendeckend Entscheidungskompetenz besteht. Jeder kann die Infrastruktur seiner Stadt, zumindest im Alltag einschätzen. Kann sagen, ob er beispielsweise Nachts gerne mehr Polizei in einem bestimmten Bezirk hätte, oder ob der Sportplatz einfach nur noch ranzig aussieht. Und weil Kommunalpolitik leider recht prestigelos ist setzen sich da manchmal gestalten fest, wo es einem glatt unheimlich werden kann. Falls die Stadt es überhaupt schafft ihre Posten zu besetzen.
Was ich in dem Sinne garnicht einmal so verkehrt fände wäre beispielsweise ein nicht einmal plebiszitäres Element, aber eine teilweise Rückbesinnung auf das ultimativste demokratische Mittel. Das Los!
Nehmen wir mal an ein Stadtrat besteht aus 10 Mitgliedern. Warum nicht 2 der Plätze für das Los öffnen? Wenn da welche rein kommen, die nur Mist bauen, dann können die noch immer problemlos überstimmt werden, aber damit wäre es dann theoretisch auch möglich vielleicht mal Leute in den Stadtrat zu bekommen, die aus unterschiedlichen Gründen sonst niemals gewählt würden. Da kann dann eine alleinerziehende Mutter auf Hartz IV auch mal ihre Perspektive einbringen und wenn der Geloste keine Zeit hat, ist die Stimme eben unentschieden. Ich will nicht den Eindruck erwecken, jeder könnte gut im Stadtrat arbeiten, aber auf kommunaler Ebene, direkt an den Menschen dran, da könnte man auch mal ein bisschen experimentieren. Und wie gesagt, die kommunale Ebene bekommt jeder am eigenen Leib mit. Selbst wenn ich keine Ahnung von Bussen und Straßenbahnen habe, kann ich noch immer eine Entscheidung treffen ob ich die neue Straßenbahnverbindung gebrauchen könnte, oder nicht. Da sieht sogar ein eingefleischter Anhänger der Repräsentation wie ich ein gewisses Potential.